Das ganze Ausmaß der Sauerei
Die Figuren erfinden, aber die Fakten gründlich recherchieren: Mit diesem Konzept hält der deutsche Krimiautor Wolfgang Schorlau nicht nur seine LeserInnen, sondern auch Ermittlungsbehörden in Atem. Jetzt knöpft er sich die Ermittlungen zum Nationalsozialistischen Untergrund vor.
Er lebt und arbeitet in Stuttgart, liebt schwarzen Blues (vor allem Junior Wells) und braut seinen Kaffee noch in der gurgelnden Espressokanne. Er trinkt gern Grauburgunder und verträgt zum Frühstück auch Deftiges (Leberwurst, Räucherspeck, Weißwurst). In den Spiegel schaut er nur selten, aber er achtet darauf, dass seine Unterwäsche (Boxershorts) farblich zu Jeans, hellem Hemd und Jackett passt: Georg Dengler, aufgewachsen als Halbwaise auf einem Bauernhof im Schwarzwald, politisiert in Freiburg. Dann Polizeiausbildung und Fahnder beim Bundeskriminalamt BKA. Nach der Ermordung eines Bankmanagers und eines Treuhandpräsidenten und einem tödlichen Antiterror-Einsatz in Bad Kleinen erste Risse in seinem Bild von integrer Polizeiarbeit: Zu viel wird manipuliert, verschleiert, nicht weiterverfolgt. Um das Jahr 2000 hat er genug und macht sich als Privatermittler selbstständig.
Sieben Politthriller hat der Schriftsteller Wolfgang Schorlau bereits mit seinem Romanhelden Dengler bestritten, der achte ist in Arbeit.
Wir sitzen in der Foyerbar des Stuttgarter Kunstmuseums, die, auch wenig besucht, einen respektablen Geräuschecocktail bietet. Wir trinken Kaffee, Wolfgang Schorlau handgepressten Orangensaft. Eine Erkältung hat ihm zwei Wochen lang Nase und Bronchien verstopft und den Kopf blockiert. «Nichts ging mehr», sagt er. Das ist gemein, wenn man gerade an einem Roman sitzt, der im Herbst erscheinen soll. Das Umfeld, in dem Dengler ermitteln wird, ist dieses Mal besonders düster. «Die schützende Hand» lautet der Arbeitstitel und es geht um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), also um unaufgeklärte Morde, Geheimdienste, hochkriminelle V-Leute, behinderte Ermittlungsarbeit, Vertuschung.
Das Buch bereitete Wolfgang Schorlau im Vorfeld einige Bauchschmerzen. Er litt an «Erkenntnisfurcht», hatte Angst, plötzlich ein ganz anderes Bild von dem Land zu bekommen, in dem er lebt. Inzwischen hat er zu Ende recherchiert, und zurück bleibt die Erkenntnis, dass der Verfassungsschutz in Thüringen die Neonaziszene erst ermöglicht hat. Und die Frage, ob ein Land, in dem der Staatsschutz unkontrolliert am Gesetz vorbei agiert, noch ein demokratischer Rechtsstaat ist. Die offizielle These, dass die beiden NSU-Männer Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in ihrem Wohnwagen Selbstmord begangen haben, wackelt erheblich, und beim Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter – die Bundesanwaltschaft geht weiterhin von einem Zufallsopfer aus – sind so viele Zufälligkeiten im Spiel, dass Schorlau nicht mehr an Zufall glaubt.
Keines seiner Bücher war im Entstehungsprozess so brisant wie dieses: «Jederzeit kann etwas passieren, das dem Ganzen eine andere Richtung gibt.» Immer noch kommen ZeugInnen ums Leben, «mit dem Ende des NSU hat das Sterben ja nicht aufgehört». Vor einem halben Jahr richtete das Land Baden-Württemberg einen eigenen NSU-Untersuchungsausschuss ein (es ist der siebte zum Thema). Dass es diesem gelingt, neue Erkenntnisse ans Licht zu bringen, hält Schorlau für eher unwahrscheinlich. «Man hat schon das Gefühl, dass es mächtige Kräfte gibt, die das alles lieber unaufgeklärt lassen wollen. Aber ich bin kein Hellseher», sagt er. Auf seinen kombinatorischen Spürsinn wollten die Ausschussmitglieder allerdings nicht verzichten: Im Februar 2015 war der Krimiautor als Sachverständiger geladen.
Auch im Polizeiapparat setzen einige auf die Ernsthaftigkeit seiner Recherchen. Das zeigt die Entstehungsgeschichte des «München-Komplotts», Dengler Nummer fünf, über die Hintergründe des Oktoberfestattentats 1980. «Wir haben etwas für Sie, das Sie interessieren wird», hatte es eines Tages am Telefon geheißen. Kurze Zeit später legte man Schorlau die Akten der damaligen Sonderkommission vor, Notizen durfte er keine machen. «Ich las bis zum frühen Morgen, die beiden Männer unterbrachen mich selten», schreibt Schorlau im Nachwort. «Hin und wieder machten sie mich auf einzelne Schriftstücke, Protokolle oder Aktenvermerke aufmerksam.» Und wiesen ihn auf Vernehmungslücken und Widersprüche hin. «Offensichtlich waren sie mit den Ergebnissen der Oktoberfest-Ermittlungen nicht einverstanden.» 2014, fünf Jahre nach Erscheinen des «München-Komplotts», nahm der Generalbundesanwalt die Untersuchung wieder auf: Der öffentliche Druck war hoch, das Buch ein Teil davon.
Schorlau hatte es damals «den aufrechten Bullen» gewidmet, von denen es seiner Meinung nach mehr gibt, als man denkt. Obwohl er ihnen oft genug bei Demonstrationen gegenübergestanden sei, habe er großen Respekt vor diesem Beruf. «Wenn ein Kriminalbeamter seinen Job gut macht und sich nicht zu viel reinreden lässt, gefällt mir das.» Seine Krimis würden in diesen Kreisen gelesen, sogar weiterempfohlen, auch beim BKA. Wenn man dort, wie es den Anschein hat, «meine Bücher als Ermutigung auffasst, nicht locker zu lassen, dann freut mich das. Damit hätte man schon einiges erreicht.»
Denn es gibt sie halt doch, die anderen, obwohl sich seit dem Münchner Attentat die politische Landkarte verändert hat. Damals hatte es mehrere Anschläge gegeben, die, von Rechten verübt, der RAF angelastet wurden, und inzwischen ist auch dokumentiert, dass es ein Interesse gab, die Linke zu diffamieren und destabilisieren. Aber kann man sich heute auf den NSU und die Aktivitäten der Geheimdienste noch einen Reim machen? «Das ist nicht so schwer zu verstehen», sagt Schorlau. «Unmittelbar nach der Wende wurde der thüringische Verfassungsschutz von den kältesten Kalten Kriegern aus dem Westen geführt, und die sahen sich hier umzingelt von Stasi-Leuten, Volksarmee und Volkspolizei. ‹Dazu bauen wir eine Gegenmacht auf›, müssen die sich gesagt haben. 1990 gab es ja auch bereits wieder Demonstrationen in Leipzig – wie das ausgehen würde, konnten sie damals nicht wissen.»
Nicht verfolgte Spuren, Lücken in der Ermittlungsarbeit, höhere Interessen: «Wenn Polizei, Justiz und Politik versagt haben, muss es den Geschichtenerzählern erlaubt sein zu sagen: Es ist nur eine Geschichte, aber vielleicht war es so«, schrieb Wolfgang Schorlau bereits 2003 im Nachwort seines ersten Dengler-Krimis, «Die blaue Liste». Die Ungereimtheiten bei der Aufklärung des Mordes an Treuhandanstaltschef Detlef Karsten Rohwedder und die gnadenlose Abwicklung der DDR-Betriebe – Rohwedder schwebte ein humaneres Szenario vor – fand er so spannend, dass er seinen Job als IT-Manager hinwarf und zu schreiben begann. Da war er fast fünfzig und hatte noch nie einen Roman verfasst. «Ich habe das mit der Naivität des Ahnungslosen begonnen und wusste nicht, wie schwer es für manche ist, ihr Manuskript in einem Verlag unterzubringen. Aber dass der Rohwedder-Stoff gut ist, das wusste ich. ‹Wenn nicht diese Geschichte, welche dann?›, habe ich mir gesagt.»
Da stand die literarische Form bereits fest, denn Schorlau liest selbst gern Kriminalromane, ein Genre, das damals gerade zum Höhenflug ansetzte. «Heute verkaufen sich Krimis besser als andere Belletristik, und das Schöne ist: Obwohl sich in der Krimiecke gerade ungeheuer viel entwickelt, lassen uns die Kritiker in Ruhe.» Hätte er aus seinem Erstling einen Familienroman gemacht, wäre er nicht so oft verkauft worden; und den Stoff zu einem Sachbuch zu verarbeiten, wäre ihm im Traum nicht eingefallen. «Ich bin ein Erzähler und erzähle gern möglichst wirklichkeitsnahe Geschichten. Diesen Realismus versuche ich in den Dengler-Romanen so fest wie möglich zu ziehen. Dazu begebe ich mich in gesellschaftliche Konflikte und schaue mich dort genau um.» Sein Konzept ¬– die Figuren erfinden, die Fakten gründlich recherchieren – ist erfolgreich: Die Gesamtauflage seiner Bücher liegt bei rund einer Million.
Schorlau, ursprünglich zum Kaufmann ausgebildet, war Mitte der sechziger Jahre in der Lehrlingsbewegung politisiert worden. «Ich habe einen kühlen Blick auf die Gesellschaft, auch dadurch, dass ich in Konzernen wie Nixdorf gearbeitet und zeitweise ziemlich viel Geld verdient habe. Dass ich mich in unterschiedlichen Sphären bewegt habe, kommt mir heute zugute. Ich weiß, dass Geld die Welt regiert.» Mit seinen Krimis betreibt er gesellschaftliche Aufklärung. Thematische Antriebskraft ist Neugier, das Transportmittel Verblüffung. Wenn er sich in ein Thema vertiefe – etwa das Gesundheitswesen, die Wasserprivatisierung oder die Fleischindustrie –, sei er immer wieder erstaunt, «wie wenig man darüber weiß, wie die Dinge, mit denen man täglich zu tun hat, tatsächlich funktionieren». Diese Verblüffung gibt er an seine LeserInnen weiter, denn auch Dengler kommt erst im Lauf der Recherchen hinter das ganze Ausmaß der Sauerei.
Macht- und geldgierige Konzerne, untertänige PolitikerInnen, finstere Geheimdienste. Ist das Bild, das er zeichnet, nicht etwas übertrieben? «Ich zeichne das nicht so. Die Staatssekretärin in ‹Fremde Wasser›, eine Konservative, wägt durchaus ab. Wenn es so wäre, wie Sie es schildern, hätte ich etwas falsch gemacht.» Außerdem sage er nicht, dass die gesellschaftlichen Konflikte für die Guten von vornherein verloren gingen. «Ich beschreibe die Konflikte in aller Klarheit, darum bemühe ich mich jedenfalls; wie sie ausgehen, weiß ich nicht.» Machtlos sei man aber nicht.
Die Kaffeetassen sind leer, der zweite Orangensaft ist ausgetrunken, doch eine Frage drängt sich noch auf: Wolfgang Schorlau lebt und arbeitet in Stuttgart, liebt Junior Wells und den Chicago Blues (sein Buch darüber heißt «Down at Theresa's»); er ist ohne Vater aufgewachsen, wurde in Freiburg politisiert, hat um 2000 seinen Job gekündigt und trinkt inzwischen auch ganz gern mal Grauburgunder. Und wenn man ihm für sein nächstes Buch Szenarien vorschlägt wie NSA, die Vorratsdatenspeicherung, den Finanzmarkt oder die Lobbyarbeit hinter den Freihandelsabkommen, dann findet er das alles zwar spannend, meint aber, dass er darüber zu wenig wisse, da «Dengler dazu noch nicht aktiv war». Ist Dengler Schorlaus Alter Ego? «Ich finde nicht», antwortet er, «ich habe eigentlich keine Ahnung, was ein Privatdetektiv alles machen muss außer recherchieren. Und ich stolpere auch nicht so naiv in die Sachen rein wie Dengler.» Aber er sei da natürlich etwas befangen, meint er und lacht, «Außenstehende halten uns für enger verwandt als wir uns selber.»
Es ist schön, dass Autor und Protagonist sich darin so einig sind, und noch schöner ist, dass aus dieser Symbiose so ungemein spannende Politkrimis entstehen.
Ein Mann mit Flair für finstere Kapitel
Wolfgang Schorlau ist derzeit einer der erfolgreichsten deutschen Krimiautoren. Der Durchbruch gelang ihm mit dem zweiten Dengler-Roman, «Das dunkle Schweigen», in dem er ein finsteres Kapitel der deutschen Geschichte aufschlug: die unaufgeklärten Lynchmorde an alliierten Bomberpiloten im Zweiten Weltkrieg. Dafür bekam er 2006 den Deutschen Krimipreis; weitere Preise folgten. Stets greift er gesellschaftlich relevante Themen auf: Korruption im internationalen Wassergeschäft («Fremde Wasser», 2006), den Afghanistankrieg und die diabolischen Erfindungen der Rüstungsindustrie («Brennende Kälte», 2008), dubiose Praktiken der Pharmabranche («Die letzte Flucht», 2011, inzwischen verfilmt). Sein bislang letzter Krimi, «Am zwölften Tag» (2013), verleidete einigen LeserInnen Fleisch aus Massentierhaltung. 2010 mischte sich Schorlau, der nicht nur Krimis schreibt, als Herausgeber einer Streitschrift in den Konflikt um das Tiefbahnhofprojekt «Stuttgart 21» ein – natürlich aufseiten der GegnerInnen. Schorlaus Dengler-Romane erscheinen bei Kiepenheuer & Witsch.
© Brigitte Matern, erschienen in WOZ Nr. 26/15 vom 25. Juni 2015